Der Dichter-Prinz
Eine Untersuchung zur Thomas Manns
Königliche Hoheit
1. Einleitung
«
„Ich habe erwogen. Ich habe gewogen und zu leicht befunden“ (GW II, 27). Mit diesen
zornigen Worten fertigt Großherzog Johann Albrecht seinen Generalarzt ab, und sie
könnten ebenso als Motto über der Aufnahme von Königliche Hoheit in der zeitgenössischen
Kritik und dem überwiegenden Teil der Forschung stehen. Der zweite Roman
von Thomas Mann, der 1909 erschien, war zwar ein Erfolg beim Lesepublikum, an der
Ablehnung seitens der Fachwelt hat sich jedoch bis heute kaum etwas geändert, so daß
er im Oeuvre Manns aus dieser Sicht einen ähnlichen Platz einnimmt wie etwa Theodor
Fontanes Quitt.
Insbesondere der Ausgang, das happy end, die Synthese von Hoheit und Liebe, hat dazu
beigetragen, daß Königliche Hoheit für „absolut und relativ zu leicht befunden“2
wurde.
Schon Kurt Martens hat den Schluß als „Abstieg ins Flachland des Optimismus“3
bezeichnet,
Helmut Jendreiek deklariert die Lösung als „aufgesetzt“4
, Friedhelm Marx
nennt sie „vorschnell“5
und Hellmuth Karasek resümiert ironisch in bezug auf die allgemeine
Kritik am Romanausgang:
„Summiert man die Vorwürfe, summiert man, was dem Autor vorgerechnet wurde,
so ergibt sich [...], daß man ihm das „Lustspiel“, wie er es an anderer Stelle
nannte, nicht verzieh, den Optimismus, das Happy-End – ein deutscher Roman
hatte tragisch zu enden, tödlich, im Untergang, in der Götterdämmerung.“6
Was wohl als überwiegende Auffassung der Thomas-Mann-Forschung zu dem Werk
insgesamt anzusehen ist, hat Reinhard Baumgart ausgesprochen: Königliche Hoheit sei der
„sicher schwächste“7
von Thomas Manns Romanen. Im Gegensatz hierzu hat Joachim
Rickes seine Forderung nach einer neuen Art der literaturwissenschaftlichen Methodik
gerade auf der These aufgebaut, die Forschung habe Königliche Hoheit insgesamt und speziell seinen Ausgang weitgehend verkannt8
– größer kann man sich die Differenzen um
ein Werk kaum vorstellen.
In der vorliegenden, weitgehend textimmanent orientierten Untersuchung soll der Blick
auf den Roman Königliche Hoheit nicht durch die Forschungs-These von der angeblichen
Schaffenskrise zwischen Buddenbrooks und Der Zauberberg a priori verstellt werden. Das
Augenmerk wird vornehmlich auf die Gestaltung der gegensätzlichen Bereiche von
‚Hoheit‘ und ‚Leben‘ sowie die abschließende Synthese dieser beiden gerichtet. Die zentrale
Frage der Untersuchung wird sein, ob es sich bei dem Ausgang von Königliche Hoheit
überhaupt um ein happy end handelt, und welche Funktion dem Schluß in Hinsicht auf
das gesamte Werk zuzuschreiben ist.
2. Hoheit und Verfall einer Familie
2.1. Das unsachliche Leben
Königliche Hoheit ist von der inhaltlichen Struktur her in zwei etwa gleich lange Teile unterteilt,
von denen der erste bis einschließlich des Kapitels „Der hohe Beruf“ (GW II,
12-181) reicht, der zweite die andere Kapitel umfaßt. Ein „Vorspiel“ führt bereits anhand eines „phantastische[n]
Auftritt[s]“ (GW II, 10) in die Problematik des Romans ein, indem hier der junge
Thronfolger Klaus Heinrich in Leutnantsuniform einem General begegnet, der ihm in
Umkehrung der militärischen Hierarchieverhältnisse die Ehre erweist. Über Klaus Heinrich
heißt es abschließend:
„Gekannt und doch fremd bewegt er sich unter den Leuten, geht im Gemenge und
gleichsam doch von einer Leere umgeben, geht einsam dahin und trägt auf seinen
schmalen Schultern die Last seiner Hoheit.“ (GW II, 11)
Anhand diverser Figuren wird die Problematik der „Last“ der ‚Hoheit‘ im weiteren Verlauf
des Romans thematisiert, wobei dieser Bereich eng mit gleichzeitigem ‚Verfall‘ verknüpft
ist.
Der Vater des Protagonisten, Großherzog Johann Heinrich, erweist sich als „ausschließ-
lich dekorative Persönlichkeit“ (GW II, 21). Seine ‚königliche Hoheit‘ wird durch die
erzählerischen Mittel, mit denen er geschildert wird, unterstützt. Seine Stirn ist „hoch
vor Kahlheit“ (GW II, 26), er blickt mit „müdem Hochmut in die Weite“ (ebd.), und er
besitzt die „ein wenig zu hoch sitzenden Wangenknochen, die ein Merkmal seines Volkes“
(ebd.) sind – das Wortfeld „hoch“ spielt überhaupt eine bedeutende Rolle in Königliche Hoheit und ist immer dort en masse präsent, wenn es um die Schilderung hoheitlicher
Personen geht.
Die Kehrseite der ‚Hoheit‘ zeigt sich äußerlich in dem schon zitierten müden Blick und
den „zwei ungewöhnlich tief schürfende[n] Furchen“ (ebd.) in seinem Gesicht. Als Repräsentant
hat Johann Albrecht es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Um ein bestimmtes
Ereignis würdig zu begehen, redet er dem jeweiligen Anlaß entsprechend „kurz und
gnädig“ (GW II, 35) oder „in abgerissenen Sätzen und mit einer Kommandostimme“
(GW II, 112). Schon früh versucht Klaus Heinrich es ihm gleich zu tun, wenn er seinem
Lehrer „in hübscher, gewinnender und gerundeter Weise“ (GW II, 55) die Hand gibt,
„so, wie er es gesehen hatte, daß sein Vater den Herren die Hand reichte“ (ebd.). Nicht
zuletzt des Vaters Fähigkeiten in diesem Bereich haben dazu beigetragen, daß das Volk
seine Fürsten „liebte [...] wie sich selbst“ (GW II, 41). Das Repräsentative ist jedoch
nicht lediglich Fassade für die Öffentlichkeit, sondern sein Wesen, so daß die eigenen
Kinder ihn selbst im privaten Bereich nicht ungefragt ansprechen oder sich ihm nähern
dürfen – geschieht dies doch, so reagiert er „kalt“ und mit „Ratlosigkeit“ und „Verstörung“ (GW II, 58).
„Irgend etwas, ein Zartes, Gefährdetes, war dann verletzt, worin so sehr unser Wesen
beruhte, daß wir hilflos standen, wenn man es roh durchbrach. Und es war
dennoch dies selbe Etwas, was unsere Augen matt machte und uns so tiefe Furchen
der Langenweile grub...“ (GW II, 58-59)
Der Wechsel in der Erzählperspektive erweist deutlich, daß es sich nicht allein um eine
Beobachtung im Hinblick auf Johann Albrecht, von dem zuvor die Rede war, handelt.
Vielmehr bezeichnet das „uns“ ein „wir Hoheiten“ oder ein „wir zur Repräsentation
Geborene“. ‚Hoheit‘ und ‚Würde‘ scheinen ihren Preis zu haben, der sich in bezug auf
den Großherzog in Zügen von Müdigkeit, Langeweile, Hochmut und Überdruß ausdrückt.
Klaus Heinrichs Mutter, Großherzogin Dorothea, ist in Hinsicht auf Repräsentanz und
‚Hoheit‘ die perfekte Ergänzung zu ihrem Gatten. Ihre Schönheit wird „weit und breit
berühmt und gepriesen“ (GW II, 59), und sie „war geliebt, als ihr erstes Lächeln über
das schauende Volk hinflog“ (GW II, 22). Das Wortfeld „hoch“ bestimmt auch ihr Äu-
ßeres; sie trägt nicht lange, sondern „hohe Handschuhe“ (GW II, 59) und ihre Gestalt
ist „hoch aufgerichtet“ (ebd.). An der Seite ihres Mannes übt sie eine Wirkung aus, daß
sogar „graue Würdenträger“ erröten (GW II, 60). Ihre eigene ‚Hoheit‘ bewirkt eine Erhöhung
der sie betrachtenden Menschen, „die Wangen der Leute färbten sich höher“
(GW II, 60), „indem sie sich zeigte, wirkte sie Glück“ (ebd.) und die Leute, die „Hoch“ riefen, meinten sich selbst damit, wie man deutlich sah, und riefen
freudig aus, daß sie selbst hoch lebten und an hohe Dinge glaubten in diesem Augenblick.“
(Ebd.)
Diese nach außen gerichtete Wirkung ist aber reiner Schein und ermangelt jeder inneren
Anteilnahme. Das „Lachen voll Kunst und Gnade“ (GW II, 59) wird im Spiegel geübt,
ihr Herz ist „streng [...] und auf nichts als ihre Schönheit bedacht“ (GW II, 60). Eine
Aura der Kälte umgibt sie, und der explizite Hinweis auf die Analogie zur „Schneekönigin“,
in deren Kerzensaal „die Herzen der Kinder erstarren“ (GW II, 57),10 (10 Syfuß (1993), 65-70, hat die zahlreichen Ähnlichkeiten von Silbersaal und Kerzensaal der Schneekönigin aufgezeigt; vgl. auch Manthey (1996), 482f.) wirft ein
helles Licht auf das Verhältnis zu ihren eigenen Kindern. Gerade am Beispiel der Groß-
herzogin zeigt sich, daß mit der ‚Hoheit‘ anscheinend untrennbar die ‚Kälte‘ verbunden
ist. Ihr Lächeln ist von „kühler Vollkommenheit“ (GW II, 60) und wenn der kleine
Klaus Heinrich bei seiner Mutter Liebe und Geborgenheit sucht und sie umarmen
möchte, wird er mit kaltem Blick zurückgewiesen und aufgefordert, auf seine Hand zu
achten (GW II, 59). In Umkehrung der Normalität spart Dorothea die zärtlichen
Gefühle ihren Kindern gegenüber für die Öffentlichkeit auf,
„dann zeigte Mama, daß sie sie lieb habe, zeigte es ihnen allen so innig und ausdrucksvoll,
daß kein Zweifel blieb.“ (GW II, 61)
Ihre Schönheit ist aber nur mit Eitelkeit (Sinnbild hierfür: der Spiegel), nicht mit
Boshaftigkeit verbunden. Klaus Heinrich merkt schon als Kind, daß der Mangel an
Zuneigung auf ihre ‚Hoheit‘ zurückzuführen ist, und er sieht ein,
„daß es uns dem Wesen der Dinge gemäß nicht anstand, einfach zu fühlen und
damit glücklich zu sein, sondern daß es uns zukam, unsere Zärtlichkeit im Saale
anschaulich zu machen und auszustellen, damit die Herzen der Gäste schwöllen.“
(Ebd.)
Der erneute Wechsel der Erzählperspektive, parallel zu dem in bezug auf den Großherzog
schon beschriebenen, weist der Aussage auch hier eine weitergehende, allgemeinere
Bedeutung zu.
2.2. Verfall oder Abstieg
2.2.1. Die Fürstenfamilie
Der rein dekorative Vater, die kalte Mutter, der damit verbundene Mangel an Gefühl
und Lebendigkeit ist nicht die einzige und nicht die gefährlichste Folgeerscheinung der
‚Hoheit‘. Schnell wird deutlich, daß die Art der Existenz der Grimmburgs unweigerlich
entweder auf Abstieg oder Verfall und Untergang hinausläuft. Der Bruder des Großherzogs,
Prinz Lambert, ist ein beispielhafter Fall für den Abstieg von Hoheit und Würde.
Er hat eine Schauspielerin geheiratet und lebt daher im Unfrieden mit seinem Bruder,
der ihm die „Mißheirat“ nicht verzeiht.
„Er hatte sich seines Hoheitsscheins begeben, trat ganz als Privatmann auf, und,
wenn sein Hauswesen im Rufe einer liederlichen Dürftigkeit stand, so erregte das
nicht viel Teilnahme.“ (GW II, 43)
Obwohl Lambert, der zudem noch verschuldet ist, nur kurz erwähnt wird und auch im
weiteren Verlauf des Romans kaum eine Rolle spielt, so ist doch bemerkenswert, daß er
in einer „Villa am Stadtgarten“ wohnt (ebd.). Der Garten, vor allem Blumen, und die
Natur überhaupt weisen noch häufiger in Königliche Hoheit auf eine bürgerliche Sphäre
hin.
Verfall kennzeichnet hingegen das königliche Ehepaar und seine Nachkommen. Schon
durch die Schilderung der Umgebung, in der sie residieren, zeigt sich der Niedergang.11
Die Repräsentationsräume befinden sich im Zustand „schadhaften Prunk[s]“ (GW II,
108), und „der helle Tag beschien fröhlich und nüchtern ihren Verfall“ (ebd.). In allen
Schilderungen der Grimmburger Besitzungen finden sich Beschreibungen des edlen,
aber schadhaften Interieurs – ein Umstand, der nicht nur auf die Besitzer, sondern auch
auf die Situation des gesamten Landes verweist. Aber die Bewertung ist nicht rein negativ:
„Nein, der klare Tag konnte den Sälen nichts anhaben; die Schadhaftigkeit tat ihrer
Würde nicht nur keinen Abbruch, sondern erhöhte sie sogar gewissermaßen.“
(GW II, 109)
Großherzog Johann Albrecht, der einen erneuten Auftritt im Roman verräterisch nahe
der zitierten Textstelle hat, stirbt schließlich an den Folgen seiner Existenz. Die „Zersetzung
des Blutes, hervorgerufen durch innere Eiterungen“ (GW II, 120) ist die tödliche
Konsequenz seines formalen, nur auf Schein orientierten Lebens. Widerwille und
Langeweile haben seine letzten Jahre geprägt, so daß er „dem Tode wenig Widerstand“
leistet (GW II, 121) und äußert, er sei „des Ganzen“ „sterbensmüde“ (ebd.). Seiner
Pflicht zum Repräsentieren geht er dennoch bis zum letzten Atemzug nach, und in einer
gespenstischen Szene überreicht er vom Totenbett aus dem Arzt, der an ihm eine vollkommen
nutzlose Operation vorgenommen hatte, die Ernennung zum Geheimrat.
„Er nahm den Akt mit aller Sorgfalt vor und machte eine Zeremonie daraus. Er
ließ sich ein wenig aufrichten, verbesserte, die wächserne Hand schirmend über
den Augen, die zufällige Aufstellung der Anwesenden, hieß seine Söhne sich zu
beiden Seiten des Himmelbettes stellen, – und während sein Geist bereits vagierte,
sich auf unbekannten Abwegen befand, ordnete er seine Miene zum Gnadenlächeln, um dem Professor, der nach einiger Abwesenheit ins Zimmer zurückkehrte,
das Diplom auszuhändigen...“ (GW II, 122)
Seine Gesichtszüge, in denen sich Überdruß und Hochmut widerspiegeln, prägen sich in
den letzten Tagen vor dem Tod in „wahrhaft groteske[r] und grimassenhafte[r] Weise
aus, um sich erst im Tod ein wenig zu glätten“ (GW II, 121f.) – Erlösung findet Johann
Albrecht nur im Tod.
Seiner Frau ergeht es nicht viel besser. Sie, deren „Schönheit ihre Seele gewesen war“
(GW II, 129) muß erleben, wie „ihre kühl und streng gepflegte, berühmte, bejubelte
Vollkommenheit“ (ebd.) vergeht. Weil sie ihre ganze Existenz auf ihr Äußeres und die
damit verbundene Wirkung gestellt hat,
„so war sie nun ratlos und sehr verarmt, konnte innerlich den Übergang zu dem
neuen Zustand nicht finden und nahm Schaden an ihrem Gemüte.“ (Ebd.)
Die Erlösung ihres Mannes durch den Tod bedeutet für sie bedingt auch eine solche,
„da er sie aller Repräsentationspflichten enthob“ (GW II, 130). Dennoch ist auch ihr
Verfall vollkommen, sie findet nicht mehr zu einem neuen Leben, sondern lebt zurückgezogen,
„verdüstert und wunderlich“ (ebd.) in einem alten, klösterlichen Jagdschloß.
Ausflügler können manchmal beobachten,
„wie sie [...] im Park promenierte und mit gnädiger Neigung die Alleebäume zu
beiden Seiten grüßte...“ (Ebd.)
Der älteste Sohn und Thronfolger, Albrecht, erweist sich als gänzlich unfähig, die Rolle
des Repräsentanten zu übernehmen. Als Kind nur knapp dem Tod entkommen, ist seine
Gesundheit auch später permanent labil. Sein eines Auge ist „mit einer Schwäche
behaftet“ (GW II, 53), er lispelt und seine Schulterblätter sind „ein wenig ungleichmäßig
gestellt“(ebd.). Doch nicht nur sein Äußeres und seine Konstitution lassen ihn als
Großherzog ungeeignet erscheinen.
„Er schien von äußerster Zurückhaltung, kalt aus Befangenheit und stolz aus Mangel
an Anmut.“ (Ebd.)
Sein Abneigung gegen die eigene Form der Existenz drückt sich in Albrechts Tick aus,
mit der Unterlippe an der oberen zu saugen – dieses Merkmal begleitet ihn leitmotivisch
durch den gesamten Roman. Von seinem Regierungsantritt an zeigt sich sein Widerwille
gegen die Rolle des höchsten Repräsentanten so deutlich, daß es „die Öffentlichkeit
betrübte“ (GW II, 126).
„Die geringen Leute fühlten wohl, daß sie diesen Fürsten nicht hochleben lassen
und sich selbst damit meinen konnten.“ (Ebd.)
Die Einsicht in die Substanzlosigkeit der eigenen Situation, versinnbildlicht am Vergleich
mit dem „Fimmelgottlieb“ (GW II, 144), macht es ihm unmöglich, dauerhaft die
repräsentative Aufgabe wahrzunehmen.
„Du [Klaus Heinrich] wirst zugeben müssen, daß ich das Juchhe der Menge nicht
aus Dünkel verschmähe, sondern aus Neigung zur Menschlichkeit und zur Güte.
Es ist ein erbärmlich Ding um menschliche Hoheit, und mir scheint, daß alle Menschen das einsehen müßten, daß alle sich menschlich und gütig gegeneinander verhalten
und einander nicht erniedrigen und beschämen sollten. Ohne Scham den
Hokuspokus mit der Hoheit mit sich treiben zu lassen, dazu muß wohl eine dicke
Haut gehören. Ich bin ein bißchen zart von Natur, ich fühle mich der Lächerlichkeit
meiner Lage nicht gewachsen.“ (GW II, 146-47)
Wegen dieser egalitären Grundhaltung, die sich unzweideutig an den Ideen von 1789
orientiert, übergibt der sensible und hochintelligente Albrecht kurz darauf die Repräsentantenrolle
an seinen Bruder – seine schlechte körperliche Verfassung erscheint dabei
nur als der äußere Anlaß. Die „Stellvertretung“ (GW II, 157), die Klaus Heinrich somit
übertragen bekommt, wird durch die ebenfalls mitgeteilte Absicht Albrechts, unverheiratet
zu bleiben, zusätzlich mit der Bürde der Verantwortung der Thronfolge und der
damit einhergehenden Notwendigkeit, für männliche Nachkommen zu sorgen, belastet.
Für Albrecht selbst ist sie Flucht und notwendige Gegenmaßnahme gegen den ihm drohenden
Verfall.
Die Schwester Ditlinde weist körperlich die geringsten Anzeichen von Niedergang auf.
Dies hängt mit ihrer Stellung zusammen, schließlich ist sie zwar Mitglied der Fürstenfamilie,
mit der direkten Thronfolge hat sie aber nichts, mit den repräsentativen Aufgaben
nur bedingt zu tun. So deutet ihr zartes Naturell (GW II, 65) nur an, was sich später
retrospektiv erweist: Daß sie unter der hoheitlichen Atmosphäre ihrer Kindheit gelitten
hat. In dem Dilemma von Verfall oder Abstieg wählt sie die zweite Variante, indem sie
zwar einen Fürsten, aber doch nur „aus mediatisiertem Hause“ (GW II, 130), heiratet,
der ihr sein Anliegen bei einem Wohltätigkeitsfest „auf gut bürgerliche Art“ (ebd.) angetragen
hat. Sie willigt nicht nur ein, sondern hat seine Hand geradezu „ergriffen“
(GW II, 139), wodurch sich mit der Heirat der Eindruck einer selbstbestimmten Entsagung
der hohen Scheinwelt verbindet.
Ihr Mann verkörpert den Typus des Adligen, der sich vom Grundbesitzer zum Unternehmer
verändert hat, wobei diese Veränderung bei allem finanziellen Aufstieg einen
gleichzeitigen Abstieg in bürgerliche Sphären bedeutet. Dieser Wandel scheint aber genau
das zu sein, wonach sich Ditlinde gesehnt hat: Mit ständig bereit liegendem Notizblock,
Terminkalender und strenger Pünktlichkeit befriedigt sie ihren gutbürgerlichen
Ordnungssinn; ihre Liebe zu den Blumen, die „überall“ und im „Überfluß“ in ihrem
Schloß stehen (GW II, 137) und in evidentem Kontrast zu dem Rosenstock am Alten
Schloß, der nach Moder riecht, Duft verbreiten (GW II, 135), zeigt ihren Hang zu Leben
und Natur; die Inneneinrichtung ihres Schlosses ist in einem „neuzeitlichen und
behaglich bürgerlichen Geschmack“ gehalten (ebd.); die Ölbilder, die Sammelleidenschaft
ihrer Mannes, zeigen Motive, in denen immer eine Sonne vorkommt (GW II, 136); schließlich ist es nicht zuletzt der ungewohnte Reichtum, der Ditlinde „erwärmte“
(GW II, 138).
Dies alles und mehr bildet den deutlichen Kontrast zur Welt der Grimmburger. Mit
Wärme, Duft, Blumen, Bildern voller Sonne, angenehmem und bequemem Interieur,
Ordnungssinn, einem Freundeskreis statt einem „Hof“ (GW II, 132), Reichtum und
sachlicher Tätigkeit durch die Geschäfte des Mannes hat Ditlinde sich eine neue Welt
erobert, die großbürgerliche Züge trägt und daher auch als Abstieg empfunden wird –
sie ließ sich „unzweifelhaft aus ihrer Hoheitssphäre in eine ungebundenere und zivilere
Lebensgegend hinab“ (GW II, 131). Sie selbst weist den Verlust von Würde jedoch weit
von sich und beharrt auf ihrem Standesdünkel. In der Rechtfertigung
gegenüber Klaus Heinrich vergleicht Ditlinde sich mit der ‚Kleinen Seejungfrau‘
aus dem Märchen von Andersen. (Es ist nicht Klaus Heinrich, der diesen Vergleich zieht, wie Borchmeyer meint.) Doch anders als dort findet sie ihr Glück und
ihre Seele bei den Menschen. Klaus Heinrich selbst goutiert ihre Entscheidung. „Aber
wo ist der richtige Weg? Du hast ihn gefunden.“ (GW II, 141).
2.2.2. Der Prinz und die Außenseiter
Klaus Heinrich selbst ist von Geburt an mit der ‚Hemmung‘ seines verkümmerten Arms
belastet. Wie sehr eine Behinderung repräsentativen Aufgaben entgegensteht, zeigt sich
an der Reaktion seines Vaters kurz nach der Geburt.
„Wird sie [die Hand] brauchbar sein? Gebrauchsfähig? Beispielsweise... zum Halten
des Zügels oder zu Handbewegungen, wie man sie macht...“ (GW II, 30)
Einen „gewöhnlichen“ Menschen würde eine Mißbildung von Arm und Hand insofern
elementar beeinträchtigen, als sie die wichtigsten „Werkzeuge“ des Körpers darstellen
und bei jeglicher sachlichen Tätigkeit von Bedeutung sind. In diesem Fall geht es aber
gerade nicht um sachliche Dinge, sondern um Repräsentation.
„Der Anblick des Fürsten soll seinem Volk andere Empfindungen erwecken als
Mitleid.“ (GW II, 33)
Diese Aussage des Vaters zeigt, mit welch einem Manko Klaus Heinrich von Geburt an
in Hinsicht auf seine Aufgabe behaftet ist. Doch trotz der ‚Hemmung‘ ist er, ganz anders
als sein älterer Bruder, der hohen Aufgabe gewachsen. Zwar hat er schon als Kind
„Angst vor seinem »hohen Beruf«“ (GW II, 63), aber er lernt schnell, seine Hand geschickt
zu verbergen, und er eifert seinem Vater in Haltung, Gebärde und Ausdruck
9
nach (s.o.). „Man war im ganzen zufrieden mit ihm“ (ebd.). Trotzdem weist Klaus Heinrich
eine unbändige Lust und Neugier auf das Leben auf, auf die wahre Realität außerhalb
seiner fürstlichen. Was ihm die Unterhaltungen mit den Lakaien nicht eröffnen
kann, versucht er, mit seiner Schwester Ditlinde an der Hand, zu „erstöbern“ (GW II,
65), wenngleich die Einblicke recht harmlos bleiben.
Der junge Prinz bewegt sich in seiner Welt, die von Außenseitern umgeben ist. (Thomas Mann wollte seinen Roman als Künstlerallegorie verstanden wissen und konzipierte die ursprüngliche
„Fürsten-Novelle“ als thematische Variante zu Tonio Kröger; vgl. Wysling (1967), 64-105. Die
Außenseiterproblematik beinhaltet mehr als die bloße Reflexion auf die Künstlerthematik, kann hier allerdings
nicht vertieft untersucht werden) So ist
zwar selten, aber an eminent wichtigen Stationen der jüdische Arzt Dr. Sammet anwesend:
während des Prinzen Geburt, beim Tod des Vaters... Johann Albrecht gegenüber entwickelt Sammet auf eine bloß formale
Frage das Programm der Außenseiter-Existenzen:
„Kein gleichstellendes Prinzip [...] wird je verhindern können, daß sich inmitten
des gemeinsamen Lebens Ausnahmen und Sonderformen erhalten, die in einem
erhabenen oder anrüchigen Sinne vor der bürgerlichen Norm ausgezeichnet sind.
Der einzelne wird guttun, nicht nach der Art seiner Sonderstellung zu fragen, sondern
in der Auszeichnung das Wesentliche zu sehen und jedenfalls eine außerordentliche
Verpflichtung daraus abzuleiten. Man ist gegen die regelrecht und darum
bequeme Mehrheit nicht im Nachteil, sondern im Vorteil, wenn man eine Veranlassung
mehr, als sie, zu ungewöhnlichen Leistungen hat.“ (GW II, 32)
Derartig inhaltsschwere Sachlichkeit überfordert den Großherzog, so daß er die Analogie
zur eigenen Existenz nicht zu ziehen vermag, sondern diesen Teil der Unterredung
als „peinliche Veranlassung“ (ebd.) abtut.
Während Klaus Heinrichs Jugend- und Erziehungszeit übt ein anderer Außenseiter, der
Lehrer Dr. Überbein, großen Einfluß auf den jungen Prinzen aus. Schon der Name
kennzeichnet einmal eine körperliche Anomalie, zum anderen wird hier der ‚Übermensch‘
Nietzsches karikiert, denn Überbein, selbst „dunkler Herkunft“ (GW II, 80)
und aus ärmlichen Verhältnissen, erweist sich als Vertreter der „apollinischaristokratische[n]
Tendenz des Philosophen“14, sie ist das Lebensethos des Lehrers. Entsprechend
wirkt er auf Klaus Heinrich ein und ermahnt ihn zur „Haltung“.
„Was sind Sie? [...] Sagen wir: ein Inbegriff, eine Art Ideal. Ein Gefäß. Eine sinnbildliche
Existenz, Klaus Heinrich, und damit eine formale Existenz.“ (GW II, 84)
Seine Auffassung von der Popularität unterscheidet sich diametral von der Albrechts.
Überbein bezeichnet sie als „keine sehr gründliche, aber eine großartige und umfassende
Art der Vertraulichkeit“ (GW II, 85), wohingegen Albrecht sie schlicht als „Schweinerei“
empfindet (GW II, 146). Überbeins Einfluß auf Klaus Heinrich, der ihn als seinen Freund“ (GW II, 246) bezeichnet, bewirkt, daß dieser trotz seiner schon früh gezeigten
Furcht vor der repräsentativen Existenz und trotz des Vorbilds von Vater und Mutter
den Glauben an ‚Würde‘, ‚Hoheit‘ und den ‚hohen Beruf‘ verfestigt, sich in sein Schicksal
begibt und keinerlei Fluchtmaßnahmen ergreift. Sein darstellerisches Talent und seine
in seiner Physiognomie ausgedrückte Volkstümlichkeit kommen ihm dabei zugute,
die „Hemmung“ weiß er geschickt zu verbergen, und so ist die Öffentlichkeit überaus
zufrieden mit ihrem Fürsten.
„Und Klaus Heinrich las von seiner persönlichen Wirkung, las über seines Wesens
Anmut und Hoheit, las, daß er seine Sache gut gemacht und sich die Herzen von
jung und alt im Sturm gewonnen –, daß er den Sinn des Volkes vom Alltag erhoben
und zur Liebe hingerissen habe.“ (GW II, 167)
Doch bei aller Einsicht in die Richtigkeit der Überbein’schen Thesen von der ‚Hoheit‘
merkt auch Klaus Heinrich, wie sehr die rein formale Existenz, das Ausgeschlossensein
von jeglicher Realität, an seinen Kräften zehrt. So schreitet Klaus Heinrich insgesamt
auf den unabwendbar erscheinenden Verfall zu. Die Analogien zu seinem Vater, von
dem er sich schon als Kind die ersten repräsentativen Gesten abgeschaut hatte, sind
unübersehbar. Die ersten Zeichen der Müdigkeit, die bei diesem schließlich zum Überdruß
an der eigenen Existenz und letztlich zum Tod geführt haben, stellen sich schon bei
dem jungen Prinzen ein, so daß weder über seine eigene düstere Zukunft noch über
die des Landes ein Zweifel bestehen kann, wenn nicht „ein Wunder [...] geschähe“ (GW II, 41). (Die in der Forschung des öfteren formulierte These von der Analogie zwischen Johann Albrecht und
seinem Sohn Albrecht, so z.B. bei Zöller (1996), 120, Zimmermann (41962), 203, und Jendreiek (1977),
208, ist wenig überzeugend; es scheint, daß hier der Endzustand des Vaters mit der Grundkonstitution
des Sohnes verglichen wird, wobei jedoch immer noch weitgehende Differenzen in bezug auf Gesundheit,
Einstellung und Einsicht in die eigene Lage zu zeigen wären.) Ebenfalls analog zu seinem Vater fehlt Klaus Heinrich jedoch auch die
Einsicht in die eigene Lage. So wie dieser die Rede Sammets nur als „peinliche Veranlassung“
(s.o.) begreifen konnte, versteht Klaus Heinrich die ideologische Philosophie Überbeins, deren zentrales Objekt er selbst darstellt, nicht wirklich, sondern übt sie einfach
aus, ohne sie zu hinterfragen – ein Umstand, der sich evident an den von Überbein
übernommenen Phrasen wie „sich den Wind um die Nase wehen lassen“ und dem
Schiller-Zitat „auf der Menschheit Höhe wandeln“ zeigt.
Die Nähe des fürstlichen Daseins zur Theaterwelt wird durch die Volksschauspielerin
Mizzi Meyer deutlich, deren Erfolg weniger auf ihrem Können als vielmehr auf ihrer
Erscheinung beruht – sie ist „Fleisch vom Fleische des Volkes und Blut von dem seinen“,
GW II, 172). Klaus Heinrich vermag die Leistungen der Theaterwelt mit Sachverstand zu beurteilen (GW II, 171), trotzdem weiß „das Symbol [...] nichts von seiner
eigenen Bedeutung.“
Höhepunkt der Begegnungen mit Außenseitern, die mittels ihrer eigenen Existenz
Rückschlüsse auf die Art der ‚Hoheit‘ des Fürsten ermöglichen,17 bildet die Freiaudienz
mit dem Poeten Axel Martini. Dieser „Dichter der Lebenslust“ (GW II, 174), der die
beiden Poesiebücher Evoë und Das heilige Leben verfaßt hat, ist ein kränkliches Männchen,
das selbst nichts erlebt hat, daraus aber geradezu den „Nährboden alles Talentes“
(GW II, 178) ableitet, „die [...] Entsagung ist unser Pakt mit der Muse“ (ebd.), und „aus
hygienischen Gründen“ (GW II, 179) jeden Abend um zehn Uhr ins Bett geht. Wie
Klaus Heinrich kennt er das Leben aus erster Hand kaum.
„Jeder von uns [...] kennt solche Verirrungen und Entgleisungen, solche begehrlichen
Ausflüge in die Festsäle des Lebens. Aber wir kehren gedemütigt und Übelkeit
im Herzen von dort in unsere Abgeschlossenheit zurück.“ (GW II, 178)
Nicht nur die „Festsäle“ als Anspielung auf die Bowlendeckel-Episode, sondern auch
das „uns“, das sowohl ein „wir Künstler“ als auch ein „wir beide“ heißen kann, zeigt die
enge Verknüpfung der Künstlerwelt mit der ‚Hoheit‘. Klaus Heinrich merkt die Verwandtschaft
aber ebensowenig wie sein Vater in der Begegnung mit Sammet, und seine
Reaktion auf die Unterredung, die er seiner Schwester mitteilt, entspricht der Johann
Albrechts:
„Er hat es nicht bequem und nicht leicht, das sieht man wohl, und das muß ja gewiß
für ihn einnehmen. Aber ich weiß doch nicht, ob es mich freut, ihn kennengelernt
zu haben, denn er hat etwas Abschreckendes, Ditlinde, ja, er ist bei all dem
entschieden ein bißchen widerlich.“ (GW I, 181)
Daß auch seine kalte, hohe, unbequeme, unsachliche, auf Schein gestellte und dem Verfall
bestimmte Welt der Repräsentation wenn schon nicht „widerlich“, so aber doch
ohne Seele ist, erfährt der Prinz erst... Die Belastung
für seine Kräfte nimmt der Prinz jedoch auch ohne Erkenntnis der eigenen Lage
war.
„Wie ermüdend sein Leben war, wie anstrengend! Zuweilen schien es ihm, als habe
er beständig mit großem Aufgebot an Spannkraft etwas aufrecht zu erhalten, was
eigentlich nicht, oder doch nur unter günstigen Bedingungen, aufrecht zu erhalten
war. Zuweilen erschien ihm sein Beruf traurig und arm, obgleich er ihn liebte und
jede Repräsentationsfahrt gern unternahm.“ (GW II, 163)
Günstige Bedingungen fehlen aber sowohl im persönlichen Bereich als auch in bezug
auf das Land, das mit enormen Schulden und weiteren Tiefschlägen wie Mißernten und
„Katastrophen“ in den Silberbergwerken (GW II, 143) auf den finanziellen Ruin zusteuert.
Klaus Heinrich kann den Verfall des Landes nicht nur nicht aufhalten, vielmehr repräsentiert er ihn. Aber wo ist seine Alternative? Welchen Weg er nicht ohne Verlust
seiner Würde beschreiten kann, hat der Prinz bereits erfahren: den der plumpen Verbrüderung
mit dem Bürgertum. Die Ereignisse auf dem „Bürgerball“ (GW II, 94-104),
an dessen Ende Klaus Heinrich gedemütigt und erniedrigt erkennen muß, daß das warme
„Wir“ ein Trugschluß war, haben erwiesen, daß diese Richtung die falsche ist. Daher
zeigt sich auch, daß die Lösung, die Ditlinde findet, zwar eine für sie legitime, für den
wichtigsten Repräsentanten des Landes, Klaus Heinrich, aber eine nicht annehmbare ist. (So irrt Zöller (1996), 129, wenn sie die Heirat Klaus Heinrichs in Analogie zu der von Ditlinde
stellt und erklärt, das Verhalten der Prinzessin werde „zum Vorbild für Klaus Heinrich“, da sie zum
einen die Unterschiede in der Stellung der beiden mißachtet und zum anderen aus den selbstbewußten
Kommentaren Ditlindes selbst schließt, für sie bestehe „keine Gefahr des hoheitlichen Haltungsverlustes“
(ebd., 128), der jedoch ganz im Gegenteil evident ist) Er selbst scheint in dem Dilemma gefangen, daß Hoheit den Weg zum Verfall bedeutet,
wohingegen Leben den Verlust von Würde nach sich zieht.
Kurz darauf, verabschiedet Überbein sich für immer von seinem
Schützling – allerdings geistig, nicht körperlich. Denn nach dem „Adieu, Prinz Klaus
Heinrich“ (ebd.) geht er nicht, sondern sie unterhalten sich weiter. Obwohl Überbeins
‚Non datur’ (GW II, 275) bestehen bleibt, hat er seine Niederlage eingesehen, die sich
auch in dem Detail widerspiegelt, daß er den Prinzen dieses eine Mal nicht lediglich bei
seinem Vornamen, sondern zusätzlich mit seinem Titel anspricht. Auch die persönliche
Vorgeschichte des Lehrers, seine Entsagung der Liebe, kann Klaus Heinrich nicht umstimmen,
sie bestärkt ihn vielmehr in seinem Beschluß. Daher ist es für den Romanverlauf
erzählerisch nur konsequent, daß Überbein sich zum Zeitpunkt der Verlobung das
Leben nimmt und seine Position damit aus dem Roman verschwindet. Der Grund für
diese Tat ist – erzählerisch gewollt – so wenig überzeugend, daß sich die Schlußworte
über ihn nur oberflächlich auf die banalen Ereignisse selbst beziehen, in Wirklichkeit
besiegeln sie seine reale Niederlage in bezug auf seine Philosophie von der Hoheit:
„Da lag er denn nun; das erstbeste Ungemach, die erste Mißwende auf dem Felde
der Leistung hatte ihn elend zu Falle gebracht.“ (GW II, 352)
4. Schluß
In Königliche Hoheit wird die Problematik einer Welt geschildert, die sich überlebt hat und
ihrem Verfall unweigerlich, aber würdevoll zustrebt. Auswege vor der drohenden Niedergang
sind zwar vorhanden, jedoch immer mit einem Verlust an ‚Hoheit‘ und Würde
verbunden. Der Grad dieses Verlustes ist unterschiedlich stark und hängt nicht nur von dem Ausweg selbst ab – so sinkt Lambert tief hinab, wohingegen Ditlinde zumindest
den Anschein von Würde wahren kann –, sondern ebenso von der hierarchischen Stellung.
Eine Lösung, die für die kleine Schwester annehmbar erscheint, ist für die Thronfolger
Albrecht und Klaus Heinrich unmöglich, was bei jenem zu einer Flucht in die
Krankheit führt. Die eigentliche Lösung des Dilemmas wird bereits eingangs von Baron
von Knobelsdorff formuliert:
„Das Übel fängt damit an, daß die Fürsten Bauern sind; ihre Vermögen bestehen
aus Grund und Boden, ihre Einkünfte aus landwirtschaftlichen Erträgen. Heutzutage
... Sie haben sich bis zum heutigen Tage noch nicht entschließen können, Industrielle
und Finanzleute zu werden.“ (GW II, 19)
Das hat jedoch die Aufgabe der absoluten ‚Hoheit‘, des „romantischen Luxus“ (ebd.),
zur Folge.
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Ida Boy-Ed
Die größte Ironie ist – die gesunde und kraftvolle Lösung des Problems und die frohen, starken Bilder für des Volkes Zukunft, die sie gibt. Deshalb hat Mann auch sein Werk einmal eine Märchendichtung nennen wollen, weil das Unfaßbare geschieht: der vorurteilslose Menschenverstand siegt, zum Segen des Landes und seiner Dynastie!
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Ida Boy-Ed
Thomas Mann: Königliche Hoheit
Unter Heinrich Harts literarischem Nachlaß fand man einen kleinen Aufsatz, der sich mit dem modernen Roman als kulturhistorisches Dokument befaßt. Er sagte: Wenn man sich vorstelle, alle Kultur und jede an sie erinnernde Spur würde irgendwie von der Erde vertilgt, und es blieben nur die deutschen Romane der letzten 15 bis 20 Jahre übrig, so würden spätere Völker aus ihnen unsere ganze Kultur wieder aufstellen können. Kein Stoffgebiet, kein Problem, dessen sich nicht der deutsche Roman, unter Zugrundelegung genauer, die jeweilige Materie betreffender Studien, bemächtigt hätte. Und doch war, als Hart dies schrieb, noch ein Problem scheu umgangen, vielleicht auch noch nicht so sehr im Bewußtsein der Völker als solches gespürt worden: das Problem nämlich von der Unwahrscheinlichkeit einer Fürstenexistenz innerhalb des modernen Lebens, von der vollkommenen Verbindungslosigkeit eines solchen Daseins mit all den Millionen anderer Seienden, von der kunstvoll erzeugten und erhaltenen Einsamkeit der Hoheit, von ihrer innersten Fremdheit gegenüber den einfachsten Realitäten.
Um sich an diesen Stoff zu wagen, bedurfte es einer Unbefangenheit von meisterlicher Ruhe und Größe. Dazu einer vollkommen kristallklaren Objektivität zu politischen Dingen. Die Tragödie des Einsamen konnte nur ein Einsamer schreiben, einer, der Zärtlichkeit für die latente Tragik der Einsamkeit hat und zugleich das ironische Lächeln über ihre Schiefheiten. Also Thomas Mann.
Seine soeben herausgekommene monumentale Romandichtung »Königliche Hoheit« ist ein kulturgeschichtliches Dokument von so umfassender Art, das Sozialkritische ist darin so durchaus von dem Poetischen durchdrungen, daß man vor der Tatsache steht: Thomas Mann hat sich zum zweitenmal für seinen eigenen Stoff eine eigene Form geschaffen, und die deutsche Literatur besitzt noch kein Werk, an dem dies, als von verwandter Art, gemessen werden könnte.
Werke nun, die ihren Maßstab in sich selbst tragen, sind der Kritik nur dann zugänglich, wenn in ausführlicher Eindringlichkeit das Problem, die Kompositionstechnik, die Sprachtechnik, die plastische Greifbarkeit der Gestaltung und der Gestalten aufgezeigt werden kann, wozu mir hier im erwünschten Maß keinenfalls der Platz eingeräumt werden könnte.
Was mir am allerwunderbarsten erscheint und das Wort »Poeten sind Propheten« wieder einmal wahrmacht, ist, daß Mann schon seit vier Jahren mit dieser Arbeit in heißem Mühen rang, ja, ihr Sklave war, und daß sich inzwischen dies sein Problem durch die Ereignisse der Welt aufdrängte ... Er hat es im Sinn des aristokratischen Künstlers gelöst, in welchem sich immer, fast auf das paradoxeste, die Erkenntnis und das analytisch Auflösende mit dem Konservativen verbindet. Soweit man bei dem über den Dingen schwebenden Geist Manns, bei der anmutigen Ironie seiner[135] Schilderungen überhaupt von einer Parteinahme des Dichters sprechen darf, muß man sagen: der Fürst ist ihm das notwendige Symbol, des Volkes erhöhtes Wunschbild, in dessen Anblick es hochleben und seiner selbst froh werden kann.
Der Roman befaßt sich mit dem Schicksal des Prinzen Klaus Heinrich, von der Stunde seiner Geburt an bis zur Vollendung seines Geschicks in einer glückverheißenden Heirat. Und auf das allerkunstvollste und tiefste ist dieser Werdegang eines harmlos liebenswürdigen Durchschnittsmenschen verbunden mit den Zuständen des Volkes in allen seinen Schichten. Mit wahrhaft staatswissenschaftlichem Überblick und volkswirtschaftlicher Gründlichkeit entwirft Mann die Schilderung der Lage des Landes (angenommen ist ein fingiertes mitteldeutsches Großherzogtum) und seines finanziellen Niederganges. Mit der Erfahrung eines alten Hofmannes stellt er zahlreiche köstliche, unübertrefflich scharf gesehene Typen aus der Hofwelt hin. Gleich die Entbindung der Großherzogin von dem Prinzen ist eine breite Darstellung voll von funkelnden Lichtern und in einer Sicherheit der Linienführung, daß alles von Leben sprüht. Der Dichter wirkt am stärksten, wo er von der im Grunde so armen, von aller sprudelnden Jugendfröhlichkeit entfernten Kindheit des Prinzen erzählt. Und das Erschütternde hieran wie an Klaus Heinrichs ganzem Werdegang, eingeschlossen seine erste erotische Erfahrung, die eigentlich bloß eine geschlechtliche Belehrung, bar jeder Poesie ist und jeden Bauernbursch beneidenswert gegen ihn erscheinen läßt – also das Erschütternde ist, daß diese Weltfernheit gar nicht mit besonderem Hochmut und künstlich, vorsätzlich[136] hergestellt wird, daß sie sich vielmehr bei den Fürstenkindern gerade so von selbst ergibt, wie umgekehrt bei Kleinleutekindern das unbekümmerte Spiel auf der Gasse.Der Sprachkünstler, der durch das ganze Werk sich auf einer überragenden und ganz individuell umrissenen Höhe zeigt, findet dort die glücklichsten Worte, wo er die darstellerische Verpflichtungen des Thronfolgers Klaus Heinrich schildert, die ihm früh von seinem kränklichen Bruder, dem Großherzog, übertragen wurden, der seinerseits Popularität für »Schweinerei« hält und der seine ganze Regententätigkeit in einem niederdrückenden Vergleich zusammenfaßt. Es lebt in der Hauptstadt der Grimmburger ein Mann, Fimmelgottlieb genannt, der nicht bei Trost ist. Der trägt seinen Hut auf der Spitze des Spazierstocks und eine Rose im Knopfloch, er ist stets auf dem Bahnhof, wenn ein Zug abfährt, und winkt mit der Hand, wobei er sich einbildet, der Zug führe infolge seines Winkens. (Wir älteren Lübecker kennen wohl alle die Figur, die hierbei dem Dichter vor Augen stand, das Erstaunliche ist nur, daß Thomas Mann ein kleiner Knabe war, als er sie hat beobachten können.) Und der Großherzog Albrecht sagt, wenn ein Regierungsakt von ihm verlangt wird: Nun gehe ich auf den Bahnhof und winke. Die Bitterkeit dieses Vergleichs ist nicht zu überbieten. – Es fährt also der junge, liebenswürdige, geistig ganz im Primitiven und Schablonenmäßigen steckengebliebene Klaus Heinrich in Stadt und Land umher. Eröffnet Ausstellungen, gibt bei Schützenfesten den ersten Schuß ab, weiht öffentliche Gebäude ein. Und sein, durch ein paar eingelernte Redensarten verhülltes Nichtwissen ist immer in einen, sich von selbst aufdrängenden Gegensatz zu der tätigen Gruppe der gerade in Frage kommenden Berufsmenschen gebracht, wodurch die völlige Überflüssigkeit seines Tuns zwar deutlich, aber das darin enthaltene Gemütsmoment doch hervorhebend, dargetan wird. Er nimmt Lebehochs und Ansprachen entgegen. Einmal heißt es von einem sprechenden Bürgermeister: »Er bringe ihm den Dank dar, sagte er, und schüttelte dabei seinen Zylinderhut mit der Hand, in der er ihn hielt.« Wer fühlt aus dieser knappen Schilderung nicht die patriotische Herzensaufwallung des Bürgermeisters, dem sie sich als rednerische Geste in die Hand fortsetzen möchte, aber nur im Schütteln des Zylinders ausvibrieren darf.
Der Dichter läßt den Gemahl der Prinzessin Dietlinde, Klaus Heinrichs und des Großherzogs Schwester, den Fürsten Ried-Hohen-Ried sich als modernen Industriellen mit Glück versuchen.
Entzückend ist es, von schmunzelndem Humor, wie der »Eilbote«, das offiziöse Organ von Hof und Gesellschaft, durch den ganzen Roman hindurch mit seinen Berichterstattungen und Notizen die Handlung begleitet.
Einen sehr nachdenklich abgewogenen Gebrauch macht Mann vom Fremdwort, wo immer man einem begegnet, es könnte gerade da nie durch ein deutsches Wort ersetzt werden von der gleich schillernden Färbung oder dem gleichen umfassenden Wert. Er sagt einmal von einem höchsten Hofbeamten, während dieser sich vor dem Leser inmitten eifriger höfischer Anordnungen aufbläht, daß er ein Mann von ungemeiner Akribie sei. Hier würde das deutsche Wort »Genauigkeit« nicht von fern all die mit hineinspielenden Nebenvorstellungen von kleinlicher Wichtigkeit und lächerlichen Rangfragen auslösen.
Die unerhörte Gedächtnisleistung, die ein so umfangreiches Werk darstellt, kann vielleicht der Laie niemals ganz würdigen. Man muß wohl selber zum Bau gehören, um die künstlerische Gewissenhaftigkeit anzustaunen, mit der Mann auch jede, die scheinbar kleinste und nebensächlichste Linie, die er zu zeichnen begann, bis zum Ende durchführt – sie sind wie Nervenfäden, die sich durch den Gesamtorganismus ziehen, deren er sich gar nicht bewußt ist und deren vorzeitiges Absterben doch irgendwie eine teilweise Verkümmerung oder Unvollständigkeit für diesen Organismus bedeuten würden. Durch solche künstlerische Gewissenhaftigkeit wird gerade das bedingt, was der Leser als das Leben des Werkes empfindet!
Die größte Ironie ist – die gesunde und kraftvolle Lösung des Problems und die frohen, starken Bilder für des Volkes Zukunft, die sie gibt. Deshalb hat Mann auch sein Werk einmal eine Märchendichtung nennen wollen, weil das Unfaßbare geschieht: der vorurteilslose Menschenverstand siegt, zum Segen des Landes und seiner Dynastie!
mit den Traditionen, den Gemütswerten der Poesie und der herzensreinen Vornehmheit deutscher Art. Gesundes Bürgerblut vereinigt sich mit dem Blut einer uralten Dynastie, ihre neue Blüte verheißend. Und in diesen mit dithyrambischem Schwung dargestellten Aufstieg von Land und Volk und Fürstenhaus läßt die Dichtung den sozialkritischen Unterton fallen und wird zur Zukunftsvision.
Dies Schlußwort spricht Klaus Heinrich: »Das soll fortan unsere Sache sein, beides, Hoheit und Liebe – ein strenges Glück.«
Vor großer Arbeit, sei sie praktischer oder künstlerischer Natur, stehe ich immer in Ehrfurcht. Dieses Werk nun stellt eine so tiefgründige, umfassende und bedeutende Arbeit dar, es gibt eine solche Summe kultureller Schilderungen, gesellschaftskritischer Einsichten, poesievoller Stimmungen, ironischer Randglossen, unausgesprochener Tragik, bildnerischer Anschauungskraft, völligster Menschenkenntnis, daß man in der Überfülle des Erlebens begreifen muß, das Buch ist eine ungewöhnliche Tat! Und es ist deutsch ganz und gar. Nur einem deutschen Dichter konnte die Intuition zu diesem entwicklungsgeschichtlichen Stoff kommen.
Vor kurzem schrieb mir, um mich in einer Stunde der Entmutigung aufzurichten, mein alter Freund Th. H. Pantenius, der Verfasser des ungewöhnlichen Romans »Die von Keiles« und langjähriger Leiter des »Daheim« und der »Monatshefte«: »Halten wir uns daran, daß wir Erzähler wie ein Säemann durch das Land gehen. Wo etwa der von uns gestreute Samen aufging, wo der Niederschlag unseren Leiden und Kämpfe verwandten Seelen Mut und Kraft einflößte, wissen wir nicht, aber daß es oft genug geschieht, ist sicher. Schließlich ist doch jede Erzählung ein Wegweiser in der Wirrnis des Lebens mit Warnungstafeln zur Linken und Rechten, wo Abwege locken. Der Einfluß, den der Erzähler übt, ist groß, um so größer, je mehr sein Talent den Leser fesselt. Und so ist unsere Arbeit, indem wir nur der Unterhaltung zu dienen scheinen, von großer Bedeutung für unser Volk.«
Auch diesen Roman kann man ganz gewiß »zur Unterhaltung« lesen, denn es gibt keine Zeile darin, die einen nicht auf das geistvollste, bald tief, bald amüsant unterhielte. Aber er ist auch von einer erzieherischen Bedeutung ohnegleichen für unser Volk.
Ich freue mich, dieses alles, von seiner Vaterstadt aus datiert, dem Dichter sagen zu dürfen.
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