domingo, 31 de diciembre de 2017

LÖFFEL, LÖFFEL, LÖFFEL...

Die Welt sieht viel lustiger aus, wenn wir nicht nur das sehen, was man sehen kann – sondern auch noch all den Rest. Ein Baum ist dann kein Löffel. Das ist grob vereinfacht nur die Form, die wir mit den Augen wahrnehmen: ein gerader Stamm mit einer runden Krone. Auge sagt uns zur Form: »Löffel.« Unter der Erde sind allerdings mindestens so viele Wurzeln wie oben Äste in der Luft. Hirn müsste dann eigentlich so etwas wie »Hantel« sagen, tut es aber nicht. Den meisten Input kriegt das Hirn von den Augen und höchst selten mal von einer Abbildung im Buch, die einen Baum vollständig zeigt. Also kommentiert es brav die vorbeirauschende Waldlandschaft mit: »Löffel, Löffel, Löffel, Löffel.« 
Während wir so »löffelmäßig« durchs Leben laufen, verpassen wir großartige Dinge. Unter unserer Haut ist dauernd etwas los: Wir fließen, pumpen, saugen, quetschen, zerplatzen, reparieren und bauen neu auf. Eine ganze Belegschaft ausgeklügelter Organe arbeitet so perfekt und effizient zusammen, dass ein erwachsener Mensch pro Stunde etwa so viel Energie benötigt wie eine 100-Watt-Glühbirne. Jede Sekunde filtern Nieren unser Blut akribisch sauber – wesentlich genauer als Kaffeefilter –, und meist halten sie dabei auch noch ein Leben lang. Unsere Lunge ist so clever entworfen, dass wir eigentlich nur beim Einatmen Energie verbrauchen. Das Ausatmen passiert ganz von selbst. Wären wir durchsichtig, könnten wir sehen, wie schön sie aussieht: wie ein Aufziehauto in Groß und weich und lungig. Während manchmal einer von uns dasitzt und denkt: »Keiner mag mich«, legt sein Herz gerade die siebzehntausendste 24-Stundenschicht für ihn ein – und hätte jedes Recht, sich bei solchen Gedanken ein bisschen außen vor gelassen zu fühlen. 
Würden wir mehr sehen als das, was sichtbar ist, könnten wir auch dabei zuschauen, wie Zellklumpen in Bäuchen zu Menschen werden. Wir würden auf einmal verstehen, dass wir uns grob aus drei »Schläuchen« entwickeln. Der erste Schlauch durchzieht uns und verknotet sich in der Mitte. Das ist unser Blutgefäßsystem, aus dem unser Herz als zentraler Gefäßknoten entsteht. Der zweite Schlauch bildet sich fast parallel auf unserem Rücken, formt eine Blase, die an das oberste Ende des Körpers wandert und dort bleibt. Das ist unser Nervensystem im Rückenmark, aus dem sich das Gehirn entwickelt und aus dem Nerven überall in den Körper sprießen. Der dritte Schlauch durchzieht uns einmal von oben nach unten. Das ist das Darmrohr. 
Das Darmrohr richtet unsere Innenwelt ein. Es bildet Knospen, die sich nach rechts und links immer weiter ausbuchten. Diese Knospen werden unsere Lungen. Ein Stückchen weiter unten stülpt sich das Darmrohr aus und bildet unsere Leber. Es formt auch die Gallenblase und die Bauchspeicheldrüse. Vor allem aber beginnt der Schlauch selbst immer trickreicher zu werden. Er ist bei den aufwendigen Mundbauarbeiten beteiligt, formt eine Speiseröhre, die »breakdancen« kann, und bildet einen kleinen Magenbeutel, damit wir Essen ein paar Stunden speichern können.  Zu guter Letzt kreiert das Darmrohr sein Meisterwerk, nach dem es letztendlich benannt wurde: den Darm. 
Die beiden »Meisterwerke« der anderen Schläuche – Herz und Hirn – genießen hohes Ansehen. Das Herz gilt als lebenswichtig, weil es Blut durch den Körper pumpt, das Hirn wird bewundert, weil es sich jede Sekunde erstaunliche Gedankengebilde ausdenkt. Der Darm aber, so glauben die meisten, geht währenddessen höchstens mal aufs Klo. Sonst hängt er wahrscheinlich lässig im Bauch rum oder pupst ab und zu. Besondere Fähigkeiten kennt man von ihm eigentlich keine. Man könnte sagen, wir unterschätzen das ein wenig – ehrlich gesagt, unterschätzen wir es nicht nur, wir schämen uns sogar oft für unser Darmrohr. Darm mit Scham! 
Daran soll dieses Buch etwas ändern. Wir versuchen mal, was man mit Büchern so wunderbar kann – der sichtbaren Welt wahrhaft Konkurrenz zu machen: Bäume sind keine Löffel! Und der Darm hat eine Menge Charme!

GIULIA ENDERS

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