Mirjam Gille - Die adoleszenten Jungfrauen in den Märchen der Brüder Grimm
Man muss immer tun, was man nicht lassen kann.
-----------------------------------------------------------------------------
ADEL
Neue Braut
In meist zweiteiligen Märchen mit einer Suchwanderung wendet sich der Mann durch von
außen zugeführte Magie oder schlichtes Vergessen einer anderen Frau zu. Die rechte Braut
versucht, ihn wieder an sich zu binden, und ihn aus den Fängen der neuen Braut zu befreien.
Die neuen Bräute stehen in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu der weiblichen Hauptfigur. Bis auf KHM 56 (Der liebste Roland), sind die wahren Bräute Königstöchter von Geburt
bzw. durch Heirat.
In KHM 67, KHM 88 und KHM 186 ist die Neue Braut eine royale Infantin. Das Bild dieser
Frauen ist sehr divergent. Während die Königstöchter aus KHM 67 und KHM 186 ohne ihr
Zutun in die Position der Heiratsaspirantin geraten, und weiterhin keine aktive Rolle in den
Erzählungen einnehmen, ist die Neue Braut aus KHM 88, aktiv
daran beteiligt, die Qualen der wahren Braut zu erhöhen. Aus dem erlittenen Gestaltverlust
befreit, entführt sie den Prinzen, bezaubert ihn, und betrügt die wahre
Braut, indem sie ihrem Mann Schlafmittel verabreicht. Sie dominiert den Prinzen, der sich ihr
hingibt, und in dieser Situation eine passive Rolle einnimmt. In KHM 88 und KHM 186 geht
das Märchen nicht auf das Schicksal der neuen Braut ein. In KHM 67 wird sie zurück in ihr
Reich geschickt. Die Funktion der neuen Braut ist immer die der Konkurrentin. Neben ihr erscheint
die Heldin strahlender und frommer. Sie kann nie zur Gewinnerin des Märchens werden.
Ist sie im Interesse des Handlungsfortgangs unwichtig, wird über ihre Person geschwiegen,
egal, ob sie absichtsvoll oder ohne Verschulden in diese Situation gelangt ist.
-------------------------------------------------------------------------------
STANDLOS
Neue Braut
KHM 56, KHM 113, KHM 127, KHM 193 und KHM 198 geben keine Auskunft über den
Stand der neuen Heiratsaspirantin. Das Motiv der erkauften Nächte findet sich in KHM 113,
KHM 127 und KHM 198 wieder. Die neuen Bräute wollen die Hochzeit erst vollziehen,
nachdem sie ein bestimmtes Kleid von der wahren Braut erworben haben. Dabei betrügen alle
die Besitzerin, indem sie dem Bräutigam einen Schlaftrunk zuführen. Dafür werden sie unterschiedlich
bestraft: Sie bekommt die Kleider als Entschädigung für die geplatzte Hochzeit
(KHM 193), muss weg (KHM 113), ihr wird der Kopf abgeschlagen (KHM 198), oder sie
wird nackt denunziert (KHM 127). Der Kleiderwunsch unterstreicht die Freude an materiellen
Gütern.
Die Neue Braut in KHM 56 wird nur kurz beschrieben: Roland gerät in ihre „Fallstricke“. Ihr
weiteres Schicksal bleibt unerwähnt.
Eine Ausnahme in der Inszenierung der neuen Frau findet sich in KHM 198: Die Jungfrau
wird zur aktiven Konkurrentin der Jungfrau Maleen. Die Ereignisse des letzten Märchenteils
sind wesentlich von ihr abhängig.
Während die neuen Bräute adeliger Herkunft nicht sprechen, artikulieren drei der fünf standlosen
neuen Bräute ihre Anliegen in wörtlicher Rede. Keine der neuen Frauen wird als schön
beschrieben, in KHM 198 zeichnet sich Maleens Konkurrentin durch „große [...] Häßlichkeit“
aus.
Das Verhältnis des Bräutigams zur neuen Braut wird sehr distanziert und kühl beschrieben.
Eine solche Beziehung steht konträr zur oft leidenschaftlichen Beziehung von rechter Braut
und Partner. Die Zuwendung des Mannes zu einer neuen Partnerin verdeutlicht, wie austauschbar
die Frauen für den Helden sind. Mitleid der Erzähler für die Neue Braut bleibt in
allen Märchen aus. Es lässt sich feststellen, dass zwischen den Ständen kein signifikanter Unterschied
in der Beschreibung der neuen Braut stattfindet, da gleiche Motive in beiden Gruppen
auftauchen. Auch lässt sich ein Gleichgewicht der Aktivität erkennen.
Alle Bräutigame akzeptieren die neuen Bräute vorbehaltlos, und widersprechen keiner Beziehung.
Die Funktion der neuen Braut muss als sehr frauenfeindlich bezeichnet werden, da sie
unschuldig und oft ohne Kenntnis der vorherigen Partnerschaft eine Bindung mit dem Mann
eingeht und ungeachtet ihrer Zuneigung am Märchenende verschwindet, ohne erzählerische
Spuren zu hinterlassen.
-----------------------------------------------------
Konsequenterweise wird die Neue Braut dazu eingesetzt, das Ansehen der Heldin zu erhöhen.
In den Märchen mit Neuer Braut betrügt der Held seine Partnerin, und wird für seinen Seitensprung
nicht bestraft.
-------------------------------------------------
No hay comentarios:
Publicar un comentario